Das eigenartige Schulsystem Brasiliens


Die Schule auf dem Prüfstand

Wir beginnen die Woche mit einem Besuch in der Schule, die unsere Kinder besuchen. Die Schule „Centro Educacional de Nossa Senhora Das Dores“ ist nur 300 Meter von unserem Büro entfernt, das den Kindern gleichzeitig als Anlaufpunkt, Aufenthaltsraum und Lernstätte dient. Uns geht es bei unserem Besuch vor allem darum herauszufinden, ob die Schüler gut betreut sind und ob die Schule ihr Geld wert ist – was für Brasilien ein relativer Begriff ist.

Immer wieder werden wir in Deutschland mit der Frage konfrontiert, warum unsere Kinder auf eine Privatschule gehen, für die monatlich Schulgeld in Höhe von rund 40 Euro pro Kind zu zahlen ist, obwohl die staatlichen Schulen in Brasilien kostenlos sind. Das Problem ist, dass die öffentlichen Schulen ihre Schüler nur unzureichend betreuen, die Chance anschließend auf die Oberschule zu wechseln gering ist und der Unterricht häufig ausfällt. So wurde es uns bislang häufig berichtet. Ziel unserer Arbeit mit den Kindern ist, ihnen ein besseres Leben und eine hoffnungsvolle Zukunft zu ermöglichen. Die besten Chancen haben sie, wenn sie zur Schule gehen und, wenn möglich, anschließend studieren.

Ein fröhlich-bunter Haufen erwartet uns

Als wir die Schule durch eine kleine Tür betreten, die von einem Wachmann geöffnet wird, schlägt uns der Pausenlärm der kreischend durcheinander rennenden Kinder entgegen. Vormittags haben die Kleinen (5 bis 9 Jahre) Unterricht, nachmittags die Großen (10 bis 15 Jahre). Diejenigen, die keinen Unterricht haben, lernen zu Hause oder zukünftig – so ist der Plan – in unserem Kinderhilfe-Haus. Die Schule hat einen großen Innenhof mit Sitzgelegenheiten und einem kleinen Sportplatz. In einer Ecke befindet sich ein Tresen, an dem die Kinder Snacks und Getränke kaufen können. Die Klassenräume sind alle zu einer Seite hin offen und gruppieren sich um den Sportplatz und entlang eines Ganges im ersten Stockwerk. Von der Eingangshalle gehen das Sekretariat, die kleine, mit Büchern vollgestopfte Bibliothek und das Lehrerzimmer ab. Alles wirkt sehr bunt, freundlich und munter.

Wir werden von der Schulleiterin Rosangela Lopes Braya sehr herzlich in Empfang genommen. Café, Kuchen, Kekse, Obst, Wasser und Saft stehen bereit. Wie sich herausstellt, war das Haus früher das ihrer Eltern. Seit Februar 1987 führt die studierte Pädagogin gemeinsam mit ihrer Schwester Regina und ihrem Bruder Carlos, die ebenfalls Pädagogen sind, die Schule. Insgesamt besuchen rund 300 Schüler die Schule, wobei die soziale Mischung relativ groß ist. Das zeigt sich auch bei der Zahlungsmoral der Eltern. Rund 30 Prozent der Eltern sind mit der Zahlung des Schulgeldes im Rückstand. Unsere Kinder sind die einzigen, die das Schulgeld finanziert bekommen.

Wer etwas lernen will, muss eine Privatschule besuchen

Wir unterhalten uns sehr lang und verstehen einmal mehr, dass das Schulsystem in Brasilien ein großes Problem hat. Die öffentlichen Schulen sind zwar jedem zugänglich, sind aber qualitativ so schlecht, dass die Kinder eigentlich nur dann eine Chance auf ein Studium haben, wenn sie eine der zahlreichen Privatschulen besuchen. Eine „Escola particular“ zu besuchen ist in Brasilien nichts Elitäres, sondern Gang und Gebe. Das Angebot von Privatschulen ist sehr groß, auch in der Favela, wobei man ganz klar sagen muss, dass je höher das Schulgeld ist, desto besser sind die Betreuung und die Ausbildung der Kinder. Und somit auch die Chance, die Aufnahmeprüfung für die Universität zu bestehen.

Bei unserem Gang durch die Klassen strahlen uns „unsere“ Kinder an. Sie wissen von unserem Besuch und wir spüren schnell, wie bewusst sie sich unserer Hilfe sind. Wir selbst – sprich Ritinha, Ana, Julia und ich – tragen unsere neue „Arbeitskleidung“: unser T-Shirt, auf dem unser fröhliches Logo prangt. Wir trommeln die Kinder zum Gruppenfoto zusammen. Als Überraschung bekommt jeder ein eigenes T-Shirt und wir merken einmal mehr, wie schüchtern und dankbar die Kinder sind.

In der Pause kaufen sich alle Schüler etwas zu essen und zu trinken. Leider, welch Überraschung, scheint der Beliebtheitsgrad des Essens kongruent zum Fett- und Kaloriengehalt zu steigen. Mini-Pizza, frittierte Teigtaschen und Chips. Obst hat hier keine Chance, bestätigt die Schulleiterin uns lachend. Unsere Kinder erhalten jeweils zu Beginn der Woche fünf kleine gestempelte Wertmarken, die sie gegen einen Snack und ein Getränk ihrer Wahl eintauschen dürfen. Dieses Vorgehen hat sich bewehrt und klappt reibungslos. Es ist schön zu beobachten, dass manche Systeme, die Julia vor Jahren eingeführt hat, auch funktionieren. Wir verabschieden uns. Sämtliche Kinder, die wir aktuell unterstützen, werden wir diese Woche zu Hause besuchen und uns mit den Eltern unterhalten.

Wir besuchen die ersten drei Familien

Unsere Tour startet nach dem Mittagessen. Es ist knacke heiß, die Sonne brennt vom Himmel. Als erstes besuchen wir die Familie von Letícia, der kleinen Schwester von Alexandra, die als erste unserer ehemaligen Kinder den Sprung in eine Universität geschafft hat. Von dort geht es weiter zu Haysa, Hayara und Hayalana, die zu den ersten Kindern gehörten, die von uns gefördert worden sind. Mittlerweile haben zwei der drei Schwestern die Oberschule abgeschlossen, die Jüngste (Hayalana, Jahrgang 1998) wird die Schule voraussichtlich im Dezember 2015 beenden. Das Haus ihrer Eltern innerhalb der letzten 20 Jahre eine beeindruckende Wandlung erfahren: Die ehemalige Bretterhütte hat sich zu einem wohnlichen Häuschen gemausert.

Als letztes machen wir Station bei dem Vater von Ana Cristina. Da das Häuschen so schwer zu finden und etwas weiter weg gelegen ist, kommt er uns abholen, wobei João Paulo sich grundsätzlich mit dem Fahrrad von A nach B bewegt – ohne Bremsen und ohne Licht am Rad. Vater und Tochter wohnen extrem eng gemeinsam mit seiner Tante und teilen sich ein Bett. Die hygienischen Umstände sind miserabel, die Herzenswärme und Dankbarkeit des Vaters dafür grenzenlos. Wie sehr Cristina ihren Vater liebt, ist in jeder Geste der Tochter zu spüren und überstrahlt die ärmlichen Verhältnisse.