Tütenfalten – mehr als gar nichts


Der Kampf der Oma für die Enkelkinder

Heute beginnt unser Tag direkt mit dem ersten Hausbesuch, da der 14-jährige Matheus im Gegensatz zu den Kleinen nachmittags Unterricht hat und vormittags zu Hause ist. Matheus wohnt seit der Geburt bei seinen Großeltern. Die Mutter, so berichtet uns die Großmutter, sei „verantwortungslos“ und würde sich nicht wirklich für ihre Kinder interessieren. Matheus hat noch zwei Schwestern, die 13 und sieben Jahre alt sind. Nur die kleine wohnt bei der Mutter. In dem verhältnismäßig geräumigen Häuschen wohnen die Großeltern, Matheus und seine Schwester Isabell sowie die zwei Brüder der Mutter, die 25 und 27 Jahre alt sind. Der 25-jährige Onkel von Matheus ist für ihn eine sehr wichtige Bezugsperson, wie uns berichtet wird. Er begleitet Matheus zu allen Treffen der Kinderhilfe Fortaleza, geht zu den Elternabenden und war auch bei unserem Ausflug vor drei Tagen dabei.

Die Großmutter erzählt uns von ihrem Leben, ihren Sorgen um die Zukunft der Kinder und ihrem Wunsch nach einer soliden Ausbildung für ihren Enkel. Matheus soll später ein einfacheres Leben haben als sie es je hatte. Julia erinnert sich, dass die Großmutter früher in einer sehr einfachen Bretterbude gewohnt hat. Das Leben in der „Ocupação“ (Armenviertel auf besetztem Land) war vor 20 Jahren von Krankheiten, Armut und menschenunwürdigen Lebensverhältnissen geprägt. Im Vergleich dazu ist das Häuschen heute eine 100-prozentige Steigerung. Weit entfernt von deutschen Hygiene-Verhältnissen, aber der gekachelte Boden und die große, helle Küche vermitteln ein positives Wohngefühl.

Heute bezieht der Großvater, Mitte 60, eine kleine Rente in Höhe von 1900 Reais. Die Miete für das Haus beträgt monatlich 650 Reais. Beide Onkel leben von immer wieder wechselnden Nebenjobs. Mit ihren kleinen Gehältern unterstützen sie den Haushalt zwar ein bisschen, das meiste stemmen aber die Großeltern. Um etwas hinzuzuverdienen bügelt Matheus Oma in ihrer Küche die Kleidung anderer Leute. Sie macht einen erschöpften, wahnsinnig traurigen Eindruck. Der Kummer, der diese alte Dame plagt, ist ihr durch und durch anzusehen. Immer wieder rollen ihr während unseres Gesprächs im Wohnzimmer des Hauses die Tränen über die Wangen. Glücklicherweise scheinen auch ein paar Freudentränen darunter zu sein.

Matheus hat einen Herzenswunsch

Später erzählt uns Socorro, die Schwester von Ritinha und ehemalige Nachbarin von Matheus Oma, dass diese sie nach unserem Besuch direkt angerufen hätte: „Der Besuch von Julia und Carolin hat positive Energie in mein Haus gebracht, als würde mein Haus plötzlich erleuchten. Ich danke dem Herrgott für dieses Geschenk.“ Ich bin sprachlos und endlos gerührt. Diese grauhaarige, faltige Dame mit dem gutmütigen Gesicht und der sanften, leisen Stimme scheint ein Leben lang gekämpft zu haben. Nicht nur für sich, sondern vor allem für ihre Enkel.

Matheus, ein gutmütiger, verschmitzter und eher zurückhaltender Junge, hat bevor wir gehen noch etwas auf dem Herzen, wie er uns leise verrät. Er bittet uns, seine kleine siebenjährige Schwester in die Kinderhilfe Fortaleza aufzunehmen und ihr den Schulbesuch der Privatschule zu ermöglichen. Wir spüren, wie schwer ihm diese Bitte fällt. Noch schwerer fällt es uns ihm zu sagen, dass wir das leider nicht sofort entscheiden können, zumal wir wissen, dass unsere Spendengelder aktuell kein weiteres Kind zulassen.

Gesundheitszentrum in der Favela

Wir machen uns auf den Weg in die nahegelegene, vor zwei Wochen eröffnete Notaufnahme UPA (Port.: Unidade de Pronto Atendimento) in der Favela. An der Hauptstraße, umgeben von einem hohen weißen Zaun und einer ordentlichen kleinen Rasenfläche ist innerhalb von kurzer Zeit ein großer, nagelneuer Container aufgebaut worden, der ein kleines Krankenhaus beherbergt. Der Wachmann davor ist sehr freundlich und sagt, dass eine deutsche Ärztin sicherlich gern einen Blick ins klimatisierte Innere hinter den verdunkelten Scheiben werfen dürfte. Die mürrischen, freudlosen und leider recht arrogant wirkenden Ärzte im Innern des Containers sind anderer Meinung. Besuche, die nicht offiziell angemeldet sind, werden nicht eingelassen. In Brasilien beruft man sich in solchen Situationen nur zu gern auf die Bürokratie und fehlende Stempel, von denen die Brasilianer große Fans zu sein scheinen.

Der Blick durch die Fenster zeigt uns immerhin, dass an einem Mittwoch Vormittag rund 40 Personen im Innern darauf warten, behandelt zu werden. Sie sitzen auf Klappbänken im großen Wartebereich, an dessen Ende sich eine Anmeldung befindet und von dem aus rund fünf Behandlungszimmer abzugehen scheinen. Ein großes Schild am Eingang zeigt, was hier behandelt wird, unter anderem Atemnot, Fieber, Kinderkrankheiten und Zahnschmerzen. Solche Notaufnahmen und Gesundheitszentren gibt es in der ganzen Stadt, insbesondere in der Favela, da die Behandlung hier kostenfrei ist. Im Gegensatz zu den meisten anderen ist die UPA hier neu und modern. Ich werde das Gefühl nicht los, dass dies auch mit der nahenden Fußballweltmeisterschaft zu tun hat. Sowohl in die WM in Deutschland 2006 als auch in die in Südafrika 2010 war ich beruflich involviert. Daher weiß ich sehr gut, wie viele Journalisten aus aller Welt in den nächsten Monaten über Land und Leute berichten und auf die Suche nach „Geschichten“ gehen werden. Dass jedem Land daran gelegen ist, sich selbst so gut wie möglich zu präsentieren, ist klar.

Wie geht man mit dem Tod eines Kindes um?

Nach dem Mittagessen – Reis mit Bohnen – stehen die zwei letzten Hausbesuche an. Die fünfjährige Emily wohnt mit ihren Eltern in einem kleinen Häuschen nur 200 Meter vom Strand entfernt, durch dessen Fenster man einen traumhaften Blick auf das Meer hat. Manchmal tut sich in mir unweigerlich die Frage auf, wie viele Jahre wohl noch vergehen werden, bis sich dieser Strandabschnitt den Touristen erschließen wird und die ärmlichen Häuschen, die eng an eng stehen, verdrängt werden. Genau so war es wohl auch im nur fünf Kilometer entfernten Zentrum der Stadt, dessen Strände sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend gemausert haben.

Leider handelt es sich hier um einen traurigen Besuch: Emilys Bruder Alfredo ist vergangenes Jahr im Alter von acht Jahren verstorben. Bis heute weiß niemand, woran er gestorben ist, aber familienbedingt wird ein Herzfehler oder Diabetes vermutet. Zudem hatte er starkes Asthma. Vor diesem Hintergrund können wir gut nachvollziehen, dass sich die Mutter bewusst eine Arbeit gesucht hat, die sie von zu Hause aus erledigen kann. Was sie macht, rührt uns sehr: Sie faltet zu Hause Einkaufstüten aus Papier und fügt die Pappverstärkung in den Boden ein. Als sie erzählt, dass sie für 1.000 Tüten 20 Reais (rund 6 Euro) erhält und dafür im Schnitt eine Woche braucht, gucken wir scheinbar beide so ungläubig, dass sie sagt: „Ich weiß, dass ist sehr wenig.“ Als sie hinzufügt: „Aber das ist mehr als nichts“, blicken wir vollends zu ihr auf. Erneut steht hier eine Frau vor uns, die alles in ihrer Macht stehende dafür gibt, Geld zu verdienen und gleichzeitig für ihr Kind da zu sein. Stolz führt sie uns in ihrer kleinen Küche vor, wie sie die Tüten faltet – Schritt für Schritt. Emilys Papa steht stolz daneben. Er arbeitet als Tankwart an einer Tankstelle, sechs Tage die Woche.

Weiter geht es zu unserem letzten Besuch: Bei dem dreijährigen Arley haben wir zum ersten Mal ein ungutes Gefühl – sowohl Julia als auch ich. Mit dreieinhalb Jahren ist er für unser Programm zu jung, da wir nur Schulkinder unterstützen wollen. Die Tatsache, dass der Pay-TV-Sender Sky läuft macht uns stutzig. Wer sich die Gebühr für Privatfernsehen in Höhe von rund 80 Reais (27 Euro), wie uns der Vater frei heraus erzählt, leisten kann, benötigt unsere Förderung nicht so nötig wie manch anderer. Zum Glück ist es der einzige Besuch, der uns negativ auffällt und wir beschließen am nächsten Tag, dass wir Arley aus unserem Programm ausschließen. Im Vergleich zu den anderen Familien fühlen wir unsere Unterstützung nicht richtig Wert geschätzt und fühlen uns wohler, einer anderen Familie diese Chance zu bieten.